Die Arbeit, die uns auffrisst
In den stillen Momenten meines Denkens kehrt sie immer wieder zurück: die Frage, die mich seit Jahren begleitet. Warum arbeitet der Mensch, wie er arbeitet? Und noch tiefer: Ist das, was wir Arbeit nennen, wirklich Teil unserer Natur oder ein selbstgebautes Gefängnis, das wir längst für normal halten?
Kein Lebewesen auf dieser Erde arbeitet so wie der Mensch. Kein Tier rackert sich vierzig Stunden die Woche ab, um sich durch ein System zu schleppen, das ihm vorgaukelt, Arbeit sei der Sinn seines Daseins. Kein Vogel, kein Wolf, kein Wal. Sie alle leben. Sie jagen, sie sammeln, sie ruhen. Aber sie tun es nicht für ein abstraktes Ziel, nicht für eine Statistik, nicht für Wachstum. Sie leben, weil sie leben.
Nur der Mensch hat es geschafft, sich selbst zur Maschine zu machen. Er nennt es Fortschritt, er nennt es Fleiß, er nennt es Tugend. Doch was ist es in Wahrheit? Es ist Unterwerfung unter ein System, das ihn zwingt, sich permanent selbst zu rechtfertigen – durch Leistung, durch Effizienz, durch das Erfüllen von Erwartungen, die ihn innerlich leer zurücklassen.
Wer viel arbeitet, wird anerkannt. Wer sich aufopfert, wird belohnt mit Geld, Status und einem kurzen Applaus. Doch wer fragt dabei noch, ob er lebt? Ob er noch spürt, was es bedeutet, frei zu sein?
Ich denke oft an indigene Völker, an Gemeinschaften, die fernab der Moderne existieren oder existierten. Dort ist Arbeit kein Selbstzweck. Nahrung, Schutz, Gemeinschaft – das Notwendige wird getan. Doch es wird nicht mehr getan, als nötig ist. Der Rest gehört dem Leben selbst: dem Spiel, dem Tanz, der Spiritualität, der Stille. Dort existiert noch etwas, das wir längst verloren haben: Zeit zum Sein. Und so frage ich mich: Wann haben wir verlernt zu sein?
Die Philosophie von Georges Bataille hat mir geholfen, diese Frage etwas besser zu verstehen. Für ihn war Arbeit Teil einer beschränkten Ökonomie, ein Mittel zum Zweck: zum Überleben, zum Erhalt der Ordnung. Doch das wahre Leben liegt nicht im Zweck, sondern in der Überschreitung des Zwecks. Im Verschwenden, im Opfern, in der Ekstase. Arbeit hält uns im Reich des Profanen gefangen. Nur das zweckfreie Handeln, das bewusste Vergeuden, führt uns zurück zum Sakralen, zur Freiheit, zu dem, was den Menschen eigentlich ausmacht.
Doch hier entsteht das Dilemma. Wie können wir diesem System entkommen, wenn wir darin überleben müssen? Wie kann man sich der Arbeit entziehen, wenn Miete, Strom und Nahrung davon abhängen?
Eine einfache Lösung gibt es nicht. Es wäre naiv zu sagen: Arbeitet einfach weniger, lebt mehr. Das System lässt das nicht zu. Es frisst uns Tag für Tag, still und effizient. Doch in diesem Dilemma liegt eine Wahrheit. Die erste Form der Befreiung beginnt nicht mit dem Ausstieg aus dem System, sondern mit dem Erkennen der Ketten.
Die Frage selbst ist der erste Akt der Befreiung. Wer beginnt zu fragen, durchbricht den Bann. Wer erkennt, dass Arbeit ihn nicht definiert, sondern nur bindet, gewinnt einen Teil seiner Würde zurück. Vielleicht kann er nicht sofort ausbrechen, aber er kann bewusst leben. Er kann Inseln schaffen, Momente des Seins, Räume der Freiheit. Er kann leben, nicht nur funktionieren.
Vielleicht braucht es gar keine Lösung im klassischen Sinne. Vielleicht geht es darum, sich selbst nicht zu verlieren, auch wenn die Welt uns dazu zwingt. Der Weg aus dem Dilemma liegt vielleicht nicht im großen Umsturz, sondern im kleinen Akt des Widerstands: in Achtsamkeit, in Stille, im bewussten Leben, selbst mitten in der Maschinerie.
Ich frage mich oft, was geschehen würde, wenn mehr Menschen begreifen, dass Arbeit nicht alles ist. Was, wenn wir uns nicht mehr über unsere Leistung definieren, sondern über das, was wir sind: still, lebendig, verbunden mit der Natur und mit uns selbst? Wäre das nicht der Beginn einer anderen Welt?
Ich weiß nicht, ob sich das System jemals auflösen wird. Vielleicht nicht. Vielleicht wird es sich selbst zerstören, wie so vieles, das der Mensch erschaffen hat.
Am Ende geht es darum: nicht mehr zu leisten, sondern zu leben.
Nicholas James